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Im Zeitalter des Narzissmus

RELAX Magazin von Redaktion RELAX Magazin 25. August 2022

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Stress, Angst und innere Leere. Viele Menschen sind heute stark verunsichert. Wir stecken in unlösbar scheinenden Krisen. Und kaum ein Lösungsversuch, der die Leiden nicht nochmals verschlimmerte. Es heißt, die moderne Gesellschaft trage Züge eines pathologischen Charakters. Eine kleine Anregung zum besseren Verständnis unserer Zeit.

Wir stecken in der Klemme. Krisen und Niedergang auf allen Ebenen: die Verarmung des Mittelstandes, die Zersplitterung des Gemeinschaftsgefühls, der wachsende Analphabetismus, die explodierenden Staatsschulden, die Rohstoffkrisen, die Massenmigration, die Krisen von Bildungssystem, Parteiendemokratie und Weltfrieden – um nur einiges zu nennen. Dazu die gigantischen Materialschlachten jenes „Weltkriegs“, den die moderne Gesellschaft, allerdings verschleiert und weitgehend aus unserem Alltagsbewusstsein verdrängt, führt. Dieser Krieg hat keinen militärischen Gegner, sondern wird durch die Ideologie des ständigen Wachstums, des stetigen Mehr von allem, des Kaufens und Wegwerfens – letztlich durch die Gier – befeuert. Geführt zu Wasser, zu Lande und in der Luft wirkt dieser Krieg wie ein permanenter Angriff auf die Fauna und Flora unserer Erde, gleichzeitig aber unweigerlich auch auf die Psyche und die Würde des Menschen.

Selbst wenn wir uns nur in bescheidenem Umfang mit dem Weltgeschehen beschäftigen, kommen wir kaum umhin, eine Zunahme von Frustration, Aggression und Destruktion in erschreckenden Ausmaßen zu erkennen. Es sind dies die Symptome vielschichtiger Krisen institutioneller und persönlicher Identität, wie sie beispielsweise Günther Anders, Friedrich Nietzsche und Leo Tolstoi vorausgesagt hatten. Und es verwundert nicht, wenn sich bei vielen eine Art Endzeitgefühl ausbreitet oder der Eindruck rasenden Stillstands entsteht – und die Hoffnungslosigkeit gegenüber der Zukunft wächst.


Wo blieb der gesunde Menschenverstand?

Das hat natürlich auch damit zu tun, dass sich die Problemlösungskapazitäten von Politikern und Experten sozusagen als umso begrenzter erweisen, je genauer man hinsieht: Zahlreich entpuppen sich „Lösungen“ als Verschlechterung der Gesamtsituation. Und gerade dann, wenn sich Maßnahmen auf „die Wissenschaft“ stützen, führen sie vielfach zu Dummheiten und Grausamkeiten in monströsen Dimensionen – so, als wäre der gesunde Menschenverstand abhanden gekommen. So, als steckte ein Teufel dahinter.

Beispiele dafür gibt es ohne Zahl, im Kleinen ebenso wie im Großen. Denken wir etwa nur an die vor ein, zwei Generationen noch geltende medizinische Lehre, Babys einfach schreien zu las- sen, weil das ihre Lungen stärke. Oder an die industrielle Landwirtschaft, die das Zehnfache der Energie verbraucht, die am Ende in der verzehrten Nahrung steckt. Oder an Regierungsbeschlüsse, die unsere Kinder zu Hausarrest in einem Klima von Angst und Schrecken verurteilen, ohne an die Folgeschäden zu denken, und die uns dazu zwingen, sich von sterbenden Angehörigen nicht einmal mehr verabschieden zu dürfen.

Wenn der Irrsinn zur Normalität wird, kann das für uns nicht ohne Folgen bleiben. Die Gesellschaft von heute lebt jedenfalls alles andere als entspannt, nämlich sozusagen im Dauerstress, der durch eine geradezu unheimliche Beschleunigung in allen Bereichen nochmals verstärkt wird. Das System verlangt uns immer mehr ab, wird immer hektischer und zerstreuter – und wir mit ihm. Wir sind in ständiger Unruhe, sind permanent getrieben, etwas Neues zu suchen, uns im Außen zu orientieren. Gebannt verfolgen wir unsere „Informanten“: Facebook, Influencer, Medien, Werbung und den Tsunami von Bildern einer „Show-Gesellschaft“. Wir schlucken Drogen und Netflix-Menüs. Getrieben von der Sehnsucht nach einem Moment der Illusion von Wohlbefinden. Wir lächeln und amüsieren uns, so oft es nur möglich ist. Zu Tode, wie der Medienkritiker Neil Postman („Das Fernsehen wurde nicht für Idioten erschaffen, es erzeugt sie“) bereits 1985 anmerkte.


Vergangenheit und Zukunft: irrelevant

Was dabei zählt, ist lediglich die momentane Gegenwart. Sowohl Vergangenheit als auch Zukunft verlieren ihre Bedeutung, und das ist wohl einmalig in der Zivilisationsgeschichte. Frühere Generationen hingegen, daran erinnert der Historiker Christopher Lasch, betrachteten „die Vergangenheit als politische und psychologische Schatzkammer“, aus der man lernen konnte. Das Gefühl einer geschichtlichen Fortsetzung stiftete Identität und die Einsicht, in einer Ahnenreihe zu stehen, die aus der Vergangenheit kommt und in die Zukunft führt, weshalb das Wohl der kommenden Generationen in allen Kulturen ein ganz selbstverständliches Thema war.

Heute hingegen regiert gegenüber zukünftigen Generationen gesellschaftliche Gleichgültigkeit, auf der Ebene des Einzelnen häufen sich sogar Zweifel, ob man überhaupt noch Nachkommen in die Welt setzen sollte. Heute vorherrschend, so Christopher Lasch, sei jedenfalls die Reduzierung der Betrachtung der Zukunft einzig auf den Scheinwerferkegel des persönlichen Erfolgs: „Für sich selbst zu leben ist die vorherrschende Passion.“ Niemand denke darüber nach, was kollektiv verändert werden müsse, stattdessen stünden allein die Selbsterhaltung, das persönliche Überleben und der Kult des „persönlichen Wachstums“ im Fokus – Maßnahmen zur Verlängerung des eigenen Lebens inklusive.

In seinem Werk „Das Zeitalter des Narzissmus“ resümierte Christopher Lasch daher bereits in den 1990er Jahren: „Die Gesellschaft hat die Fähigkeiten und den Willen eingebüßt, die Probleme zu lösen, sie kann den Lauf der modernen Geschichte weder verstehen noch ihn vernünftig steuern.“ Für seine Zeitdiagnose verglich Lasch die Leitgrundsätze der Arbeitswelt und des Familienlebens während der letzten drei Jahrhunderte und arbeitete heraus, wie sich diese verändert haben sowie welche Kräfte daran maßgeblich beteiligt waren. Unter anderem thematisiert werden der Niedergang des Bildungssystems, die schrittweise Abwertung von Arbeit und Familie sowie die neue Abhängigkeit des Bürgers von Bürokratien, Experten und Institutionen. Zentrales Thema ist freilich der Narzissmus. Lasch legt dazu sozusagen den seelischen „Grundriss“ des Narzissten über die moderne Gesellschaft und sucht nach ähnlichen Charakterzügen. Was er findet, ist verstörend: Längst nicht, dass wir alle krank wären, aber viele Menschen tragen mehr oder weniger narzisstische Wesenszüge. Gleiches gilt für Institutionen, bürokratische Organisationen und Konzerne – sowie für das moderne Gesellschaftssystem insgesamt.

Auch Hans-Joachim Maaz, ein deutscher Psychoanalytiker und Psychiater, kommt in seinem rund dreißig Jahre nach Christopher Laschs klarsichtiger Analyse erschienenen Buch „Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm“ zu einem ähnlichen, jedoch weitaus drastischer formulierten Befund. Nach Maaz sitzen wir gesellschaftlich in der Narzissmus-Falle: „Solange wir keine Mittel und Wege finden, den Narzissmus und die ihm zugrunde liegende Bedürftigkeit zu zähmen, so lange gleichen alle unsere Versuche, die Krisen zu überwinden und die gesellschaftlichen Verhältnisse doch noch zum Besseren zu verändern, einem Stühlerücken auf der Titanic.“


Gier als Ausdruck einer narzisstischen Störung

Hans-Joachim Maaz zeigt, dass die Gier – nach Geld, Vortei-len oder Anerkennung – Ausdruck einer narzisstischen Störung ist. Äußerlich zwar mit strahlendem Glanz ausgestattet, ist der Narzisst in seinem Inneren leer und daher extrem verunsichert. So stark, dass er buchstäblich zu allem bereit ist, um seine Gier zu befriedigen. Diese sogenannte narzisstische Bedürftigkeit braucht ständig Energiezufuhr von außen: Lob, den Erwerb von Besitz, die Ablenkung durch Konsum, Animation und Aktion. Gier, so Maaz, sei keine spezifische Charaktereigenschaft etwa von Hedgefonds-Managern, sie sei jedoch bei den Trägern gesellschaftlicher Macht besonders ausgeprägt: bei Politikern, Top-Managern und weltberühmten Schauspielern.

Maaz sieht zwar die Schuldenkrisen, den rücksichtslosen Umgang mit den natürlichen Ressourcen oder auch Kriege als Werke narzisstisch gestörter Menschen, verweist aber gleichzeitig darauf, dass auch „Normalbürger“ nach ähnlichen Mustern ticken: beispielsweise das Leben über die eigenen Verhältnisse, das Leben in Scheinwelten, der verschleiernde Umgang mit der persönlichen Geschichte, die ständige Unruhe oder die Suche nach einem Leben, das „groß genug“ für einen sei.

Für Maaz ist die Gier als ein zentrales Symptom der narzisstischen Bedürftigkeit also auch bei den meisten Bürgern der westlichen Konsumgesellschaften zu finden. Freilich verschleiert, und das ist fatal: „Wenn die große Mehrheit der Bevölkerung so lebt“, sagt Hans-Joachim Maaz, „wenn fast alle so leben, dann wird das gar nicht mehr wahrgenommen. Wenn jeder meint, er mache es doch ohnedies nur so wie jeder andere, dann wird die Pathologie zur Normalität, und dadurch wird sie schwer erkennbar. Und die Absurdität dieser Entwicklung wird gar nicht mehr wahrgenommen. Dass man aber weiterhin glaubt, man müsse sich da anpassen, ist immer auch ein Zeichen tiefer Selbstunsicherheit.“


Unfähig zur inneren Einschau

Was aber ist nun Narzissmus, und woher kommt die Bezeichnung überhaupt? Generell geht es um mangelnde Selbstliebe bei gleichzeitiger Selbstbezogenheit. Etwas überspitzt gesagt handelt es sich um eine Art seelischer Fehlsichtigkeit, um die Unfähigkeit zu innerer Einschau nämlich. Tatsächlich kann der Narzisst sein wahres Selbst nicht erkennen. Er hat keine Einsicht in seine Problematik, hat keinen ihm erkennbaren Leidensdruck und würde sich selbst niemals als seelisch leidend bezeichnen. Einfach deshalb, weil er sich für normal und gesund hält. Er soll sich verändern? Nein, die Welt muss sich ihm anpassen!

In der Mythologie des griechischen Altertums war Narziss der Sohn des Flussgottes. Er wurde durch eine Vergewaltigung gezeugt. Seine Mutter, die Nymphe Leiriope, befüchtete, dass sie dem ungewollten Kind nicht die nötige Liebe entgegenbringen könne und dieses sich später daher womöglich umbringen würde. Deshalb fragte Leiriope einen Seher, unter welchen Umständen ihr Sohn überleben und alt werden könne. Sie erhielt die Antwort, dass dies nur möglich sei, wenn ihr Sohn „sich fremd“ bliebe, wenn es ihm nicht gelänge, sich selbst zu erkennen. Er müsse folglich emotionell gelähmt und gefühllos, wie narkotisiert werden. Die Mutter gab dem Sohn daher den Namen Narziss, der im Altgriechischen aus der Wortverwandtschaft mit nárkē (Erstarrtheit, Narkose) stammt, und zog ihn alleine groß.

Dieser Narziss darf also keine Gefühle haben. Er darf weder das Fehlen der Liebe noch den Schmerz darüber wahrnehmen. Er verpanzert sein Innerstes so, dass er keinen Zugang hat. Als er zum Jüngling herangewachsen ist, verleiht ihm sein Panzer eine besondere Anziehungskraft, lässt ihn auf den ersten Blick außergewöhnlich stark und strahlend erscheinen. Obwohl ihm die Frauen deswegen zu Füßen liegen, verweigert er sich allen, was die Nymphe Echo aber nicht wahrhaben will. Die Nymphe Echo war wegen ihres unlauteren, schwatzhaften Verhaltens von der Göttin Hera dazu verdammt worden, lediglich wiederholen zu können, was andere zuvor ausgesprochen haben. Unsterblich in Narziss verliebt, folgt sie ihm nach in den Wald. Als sie ihn endlich umarmen will, weist er sie barsch zurück. Die verschmähte Echo hebt darauf die Hände zum Himmel und fleht: „So soll er denn sich selbst lieben, auf dass er niemals in der Liebe glücklich werde!“

Echos Fluch wird von Nemesis, der Göttin der Rache, erhört. Narziss ist inzwischen im Wald weitergewandert und an ein stilles Wasser gekommen, in dem er sein Spiegelbild erblickt. Da er sich darin nicht erkennen kann, hält er es für einen anderen Menschen und verliebt sich in ihn, obwohl er das Bild nicht erreichen kann. All seine Versuche, es zu umarmen und zu liebkosen, bleiben erfolglos. Allmählich sich selbst begreifend und gewahr werdend, dass ihm die echte Selbstliebe – der Zugang zu seinem Innersten – versagt ist und er daher auch niemanden anderen lieben kann, begeht Narziss Selbstmord und ertrinkt im Wasser seines Spiegelbilds. Damit erfüllt sich die Verheißung des Sehers. Mit anderen Worten: Narziss’ Problem bestand darin, dass er kein echtes Bild von sich hatte. Er kannte nicht das Bild seines wahren Selbst, sondern nur das trügerische Bild seines Egos. Dieses zeigte ihn zwar stark und strahlend, aber es war eben ein Fake. Das Bild seines falschen Selbst – eine Illusion!


Selbstliebe: das Wissen, wer man ist

Selbstliebe ist die Voraussetzung für seelische Gesundheit, verhilft sie doch zu einem echten Bild von sich selbst. Sie verleiht die Fähigkeit, sich in liebevoller Weise sich selbst zuzuwenden, und das ist ja geradezu die Basis für ein glückliches, erfülltes Leben. Zu wissen, wer man ist, seine Grenzen zu kennen, zu seinen Gefühlen und Bedürfnissen Zugang zu haben, das sind die Früchte einer gesunden Selbstliebe, sie führen zu einem stabilen Selbstwertgefühl.

Woraus genau aber setzt sich dieser Selbstwert zusammen? Zum einen aus dem Selbstvertrauen, der realistischen Bewertung der eigenen Qualifikationen und Leistungen. Zweitens aus der sozialen Kompetenz, also unter anderem aus der Fähigkeit, das Verhältnis von Nähe und Distanz zu anderen problemlos regulieren zu können. Drittens aus der Einbettung in verlässliche soziale Beziehungen, beispielsweise in emotionell befriedigende Freundschaften. Viertens und letztens aus der Selbstakzeptanz, aus der Einstellung zu sich selbst. Sie ist dann stark, wenn man eins mit sich ist, sich arglos und selbstverständlich als zu Hause in sich selbst empfindet, wenn man zum Beispiel von sich sagen kann: „Ich bin mit meinen Eigenschaften und inneren Werten einverstanden, der Gedanke an sie zaubert mir sogar ein Lächeln ins Gesicht. Ich bin der Mann (die Frau) meines Herzens.“

Heute gelten Narzissten gemeinhin als Menschen mit selbstbezogenem, geltungsbedürftigem Auftritt und aufgeblähtem Ego. Es sind Menschen, die sich nach außen hin als „Ich bin etwas Besonderes“ definieren. Solange diese Persönlichkeitsmerkmale nicht starr und im Rahmen einer halbwegs harmonischen Persönlichkeit bleiben, handelt es sich dabei noch nicht um krankhaftes Verhalten. Der Übergang zwischen „normal“ und „krank“ ist freilich fließend – auch normale Menschen können Züge tragen, die in mehr oder weniger stärkeren Dimensionen beim krankhaften Narzissten zu finden sind. Die Fachliteratur verweist übrigens darauf, dass die narzisstische Persönlichkeit die in unserer Gesellschaft am häufigsten auftretende Charakterstruktur darstellt.

Von Pathologie spricht man dagegen bei einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung („NPS“), die heute ebenfalls weit verbreitet ist: Sie zählt zu den am häufigsten auftretenden psychischen Leiden – in starkem Kontrast zu Sigmund Freuds Zeiten, in denen noch Zwänge und Neurosen vorherrschten. Bei der narzisstischen Persönlichkeitsstörung, die übrigens nicht selten im Verbund mit anderen Störungen, etwa mit Depressionen oder mit dem Borderline-Syndrom, auftritt, sind die Persönlichkeitszüge starr und führen ständig zu Konflikten. Typisch sind unter anderem die ausgeprägte Empfindlichkeit gegenüber Kritik und ein schwaches, instabiles Selbstwertgefühl, das sich sehr schnell von ganz groß nach ganz klein – und wieder retour – verändern kann. In der indischen Mythologie findet sich dazu eine treffende Beschreibung: Ein Dämon bläht sich auf und erscheint riesig. Spricht man ihn an, so fällt er zusammen und findet auf einem winzigen Lotusblatt Platz.


Unstillbarer Hunger nach Anerkennung

Die Überlebensstragegie des Narzissten besteht nun sozusagen darin, das schwache, instabile Selbstwertgefühl mit einem Trick vor sich selbst zu verschleiern, nämlich mit Hilfe eines Fake-Selbstbilds wettzumachen. Dieses Fake-Selbstbild enthält die eigene Großartigkeit ebenso wie Überlegenheitsgefühle und Verachtung anderer, durchaus häufig aber auch Phantasien, die sich zum Beispiel um Schönheit, Reichtum, Berühmtheit oder auch um den ultimativ idealen Partner drehen. Die vorgetäuschte Großartigkeit ist zwar weit verbreitet, allerdings nur eine der möglichen Varianten. Betroffene können durchaus auch unsicher, scheu und hochgradig sensibel wirken, in diesem Fall spricht man vom vulnerabel-fragilen Typus oder vom „verdeckten Narzissmus“.

Jeder Mensch, darauf verweist die in München lebende Psychotherapeutin Bärbel Wardetzki, überprüft und reguliert tagtäglich seinen Selbstwert aufs Neue. Denn für seine Leistungen erhält er sowohl Lob als auch Kritik. Ein gesundes Selbstwertgefühl beruht auf der Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung und ist daher weitgehend stabil. Durch Kritik gerät es kurzfristig aus dem Gleichgewicht, durch Lob wird es gleichsam genährt.

Beim pathologischen Narzissten ist hingegen genau das Gegenteil der Fall: Er besitzt kein oder ein nur schwaches Selbstwertgefühl, ihm fehlt sowohl die Fähigkeit zur Überprüfung als auch jene zur Regulierung desselben. Daher ist sein Hunger nach Anerkennung und Bestätigung praktisch unstillbar. Er ist aber nicht nur abhängig von Bestätigung von außen, sondern reagiert auch hochsensibel auf sie. Lob führt bei ihm kurzfristig zur Selbstwertüberhöhung – „ich bin ja viel besser als die anderen“ –, allerdings nährt das Lob sein Selbstwertgefühl nicht, sondern verpufft nach kurzer Zeit.


Unbändige Wut auf Kritiker

Kritik an seinen Leistungen, und sei sie auch noch so geringfügig, erlebt der Narzisst hingegen massiv, mitunter sogar als existenziell bedrohlich: entweder als tief schmerzendes Minderwertigkeitsgefühl oder als unbändige Wut, die sich bis hin zu Rachsucht und realitätsverweigerndem Vernichtungswahn steigern kann. Bärbel Wardetzki: „Kritik wird dann nicht als Selbstwerteinbruch erlebt, sondern als Wut auf den Kritiker.“ Ebenso verdreht ist der Umgang mit Erfolg und Misserfolg. Während der Narzisst einen Erfolg immer ausschließlich auf seine eigenen Fähigkeiten zurückführt, ist es ihm unmöglich, einen Misserfolg, selbst auch nur einen kleineren Fehler, zu reflektieren, zuzugeben – oder gar in Zukunft zu vermeiden!

Auch Zurückweisung oder Kränkungen werden als hochbedrohlich empfunden, so kann in einer Beziehung bereits ein einziges Nein zur Folge haben, dass sich Betroffene in ihrem ganzen Wesen abgelehnt fühlen – freilich ohne dass ihnen das bewusst wird – und beispielsweise mit Weinen oder Ausrasten reagieren. Daher bergen bereits Nichtigkeiten den Sprengsatz für die Eskalation zu einem heftigen Streit.

Verschlimmert wird die Situation dadurch, dass der Narzisst auch seine Gekränktheit de facto verschleiern muss, weil er die Enttäuschung oder die Trauer über die Zurückweisung gar nicht als Gefühle wahrnehmen kann. Diese Gefühle sind abgespalten, sie stecken unter dem Panzer. Sie sind für ihn nicht da, und daher kann er sie seinem Partner auch nicht signalisieren. Es kommt jedoch noch fürchterlicher für ihn: Nicht einmal seine Verzweiflung darüber, dass er zu seinen abgespaltenen Gefühlen keinen Zugang hat, kann er seinem Partner vermitteln. All das muss ihn unbewusst so empören, dass er mit einem Wutanfall reagiert. Freilich: Für den Partner bleiben sowohl die Anlässe als auch die Wut rätselhaft, denn mit Sicherheit hat er nichts getan, das eine solche Reaktion rechtfertigen würde.

Pathologische Narzissten sind virtuose Verschleierungskünstler und als solche eher nur für Menschen mit außerordentlicher Beobachtungsgabe und psychologischen Kenntnissen erkennbar. Wer nicht weiß, wie Narzissten ticken, für den stehen die Chancen nicht schlecht, auf der Partnersuche in die Falle eines Narzissten zu tappen. Eigenschaften wie hohe Sensibilität, mütterliche Fürsorglichkeit und großherzige Selbstvergessenheit sind dafür die Voraussetzung.


Als „Wunscherfüllungsmaschine“ dienen

Seinen Partner wählt der Narzisst mit Kalkül, also lieblos, aus, die Beziehung beginnt er dennoch höchst verheißungsvoll: mit virtuosen Eroberungskünsten, mit der aufwendigen Inszenierung eines Theaters von perfekter Liebe – Darbietungen hochdosierter sinnlicher Verzauberung inklusive. „Ja, so muss die große Liebe aussehen!“, könnte der Partner nun etwa sagen, nicht erkennend, dass der oberflächliche Glanz trügerisch ist. Denn sobald sich die Routine des Alltags einstellt, wird es zunehmend holpriger, denn sich stets wiederholende Tätigkeiten, banale Pflichten und generell die Übernahme von Verantwortung empfindet der Narzisst als Zumutungen, die er recht schnell zu delegieren versucht, so sie ihm der Partner nicht ohnedies unaufgefordert abnimmt.

Ist dem Narzissten das gelungen, dann beginnt er, seine Interessen sukzessive durchzusetzen, und es dauert nicht lange, bis seine Wünsche und Forderungen die Beziehung dominieren. Nimmt es der Partner hin, dann wird er immer häufiger dazu verpflichtet, als „Wunscherfüllungsmaschine“ zu dienen, wozu er die eigenen Bedürfnisse vernachlässigen muss. Spätestens zu diesem Zeitpunkt sind dem Partner gewisse Züge an seiner großen Liebe aufgefallen, die er nicht nachvollziehen kann. Etwa, dass sie sich niemals entschuldigt, dass sie offensichtlich häufig nicht sagt, was sie wirklich denkt. Oder, dass sie Sexualität nicht spielerisch auszuleben vermag, dass sie ihn nicht an ihrem Gefühlsleben teilhaben lässt, dass es mit ihr nicht möglich ist, klärend über die Ursachen eines Streits zu sprechen, dass sie Kritik stets als Majestätsbeleidigung auffasst. Oder die Paradoxie, dass es dem Narzissten anscheinend besser geht, wenn er merkt, dass es seinem Partner schlecht geht.

Das ganze Verhalten des Narzissten scheint alternativlos zu sein. Aber um all das genauer zu beobachten, zu reflektieren und einzuordnen, bräuchte es Entspannung und Zeit. Beides weiß der Narzisst seinem Partner geschickt zu verwehren, indem er ihn mit immer neuen Wünschen und mit verantwortungslosen oder verwirrenden Handlungen buchstäblich in die Atemlosigkeit treibt. Lässt der Partner all das so selbstvergessen wie opferbereit mit sich geschehen, so wird der Narzisst allerdings noch maßloser. Er fordert nun etwa „Kommunikation auf Augenhöhe“ ein, für die allerdings er die Regeln diktiert. Die Kontrolle über den Partner wird total, auch Handy, Computer und E- Mails werden heimlich überwacht. Die totale Kontrolle ist für den Narzissten alternativlos, weil extrem wichtig. Sie verschafft ihm die Illusion, er hätte Kontrolle über sich selbst!


Totale Macht: die Deutungshoheit über alles

Selbst wenn der Partner überdurchschnittliche Disziplin und Nervenstärke besitzen sollte, lassen ihn die Unlösbarkeit von Konflikten und die immer verrückter werdende Fahrt auf der Gefühlsachterbahn nicht selten verzweifeln und zornig werden – bis hin zur Weißglut. Passieren ihm dann im Affekt Äußerungen oder Handlungen, die er ohne inneren Aufruhr niemals gemacht hätte, so spielt er dem Narzissten damit gleichsam die ultimativen Beweise für seine Schlechtigkeit in die Hände. Der Narzisst triumphiert – und hält die „Beweise“ wie Siegestrophäen hoch. Und wenn es ihm auch ausgesprochen schwer fällt, glückliche Momente der Beziehungsvergangenheit in Erinnerung zu behalten: Die Siegestrophäen wird er künftighin stets vor Augen haben. Er hat sie penibel notiert und wird sie niemals vergessen! Wann immer er sein zerstörerisches Verhalten verteidigen müsste, wird er sie als Angriffswaffe gegen den Partner einsetzen. Dann wird er dessen affektgetriebene Ausrutscher mit erhobenem Zeigefinger hervorkramen und lauthals skandalisieren – vor allem gegenüber Dritten!

Irgendwann hat der Narzisst dann die totale Macht an sich gerissen. Nun besitzt er auch die Deutungshoheit über alles, was in der Familie geschieht, ebenso über das, was sein Partner an Meinungen, Gedanken und Gefühlen äußert, wofür dieser freilich kaum etwas anderes als Spott, Empörung oder offensiv zur Schau getragene Teilnahmslosigkeit erntet. Der missbrauchte Partner wird mittlerweile vollständig als Sklave betrachtet. Sein Selbstwertgefühl wird mit Respektlosigkeiten und Aggressionen jeglicher Art bombardiert. Schritt für Schritt verliert er den Kontakt zu sich selbst, auch weil er sich nicht mehr um seine Bedürfnisse, sondern nur noch um jene des Narzissten kümmert – in der Hoffnung, dass damit weitere Aggressionen vermieden werden könnten. Das hilft!

Tatsächlich kommt es nämlich dann immer wieder zu harmonischen, nein, zu wonnevollen Phasen, die Tage oder gar Wochen anhalten können. Der Missbrauchte schwelgt dann geradezu in der charmanten Aufmerksamkeit des Narzissten. Und hofft insgeheim, dass sich letztlich doch noch alles zum Guten wenden würde.

Das Glück jedoch, es währt nur kurz. Eine Kleinigkeit genügt, um das nun vermeintlich stabilere Beziehungsgeschehen wieder aus dem Gleichgewicht zu kippen. Und außerdem ist ja da noch die duldsame Rolle des Sklaven! Der Narzisst, der keinerlei Verantwortung für das Gelingen der Beziehung übernimmt und die Schuld für ausnahmslos alle Pro- bleme seinem Partner zuweist, empfindet diese Rolle als abstoßend – und reagiert mit noch mehr Dominanz. Es hagelt Schuldzuweisungen, und der Partner wird von Selbstzweifeln, Schuldgefühlen und Verwirrung geplagt. Beschwerden wie Schlafstörungen, Erschöpfung, erhöhte Reizbarkeit und Konzentrationsstörungen gesellen sich hinzu.


Lügen sind die neue Wahrheit

Auf die zunehmende Schwäche des Partners reagiert der Narzisst nun nicht etwa mit Einlenken, sondern mit Gehirnwäsche: Er verdreht Tatsachen zu seinen Gunsten ins Gegenteil, kommuniziert mit Doppelbotschaften (Paradoxien mit zwei Aufforderungen, die einander gegenseitig ausschließen), bestraft jeden Widerstand mit Abwertung und boshafter Kritik, stellt seine Lügen als Wahrheit und sich selber als hilfloses Opfer dar. Und stets wiederholt er, wie sehr er sich um die Beziehung bemühe, während der Partner fortwährend für Streit und Zerrüttung sorge, da er ein „Psychopath“ sei, den er auch mit größter Mühe einfach „nicht glücklich machen“ könne, ohne dabei „selbst seelisch kaputt“ zu gehen. Es ist dem Narzissten nicht möglich, sein zerstörerisches Verhalten zu reflektieren, da es ihm quasi in der Sekunde aus dem Gedächtnis flutscht und er somit keinen Bezug zur Vergangenheit hat. Damit gelingt es ihm, keinen Moment an der Alternativlosigkeit seiner Handlungen zweifeln zu müssen.

In den meisten Fällen glaubt der missbrauchte Partner nun, tatsächlich an allem schuld zu sein. Vielleicht aber erkennt er, dass das so doch gar nicht stimmen kann, und grübelt in Endlosschleifen darüber, wie es denn nur möglich sei, dass der geliebte Mensch derartig grausam agiert. Es ist doch nicht zu fassen, es kann doch gar nicht wahr sein! Oder doch? Bin ich verrückt? Jedenfalls schreitet sein körperlicher und psychischer Verfall voran. Regelmäßig kommen Tage, an denen er es nicht mehr schafft, seinen Aufgaben nachzukommen: Die Angstzustände werden zu Panikattacken, die Konzentrationsfähigkeit nimmt stark ab, immer wieder setzt sein Gedächtnis aus, innerlich ist er wie gelähmt. In diesem katastrophalen Zustand ist er jedenfalls nicht in der Lage zu erkennen, dass er, zu völliger Unbeweglichkeit narkotisiert, ins „Spinnennetz des Narzissten“ verstrickt ist.


Masken der Niedertracht

Mit Hilfe eines guten Therapeuten wird es jedoch allmählich klar, dass die Beziehung unheilbar ausbeuterisch und daher nicht zu retten ist. Hatte der Missbrauchte aber angenommen, sein Leidensmarathon sei nach der Trennung zu Ende, so kommt es nochmals dicker: Denn der Narzisst reagiert auf seinen Machtverlust mit einer langen Phase von Wut, deren Ausmaß alles Bisherige übertrifft. Mit Schmutzkampagnen verbreitet er schamlose Lügen, um das Umfeld des Opfers zu manipulieren. Und er glaubt selbst an diese Lügen!

Die Aufteilung des Vermögens, das Besuchsrecht für die Kinder und alle anderen zu regelnden Belange türmen sich nun zu Orkanwogen aus Wut und Rachegelüsten. Sachlich-vernünftige Lösungsangebote kann der Narzisst niemals annehmen, und dass sich die Anwälte die Hände reiben, bemerkt er nicht. Fairness ist ihm fremd, da er sich stets als über den Tisch gezogenes Opfer sieht. Er kann schließlich nicht vertrauen. An- deren nicht, sich selbst nicht und einem Gott sowieso nicht! Die Psychoanalytikerin Maire-France Hirigoyen beschreibt in ihrem Buch „Die Masken der Niedertracht“ die Folgen der Trennung von einem Narzissten: Dieser will die totale Vernichtung des Expartners erreichen, jedes Mittel ist ihm recht, um ihn seelisch zu destabilisieren. Und das kommt freilich nicht von ungefähr: In seiner Panik über den eingetretenen Machtverlust hält er sich ja selbst für das Opfer und muss folglich nach Vergeltung dürsten!


Mächtig und berühmt im Spiegelsaal

Im Hinblick auf die Charakterzüge des pathologischen Narzissten erinnert Christopher Lasch daran, dass sie „in schwächerer Form im Alltagsleben unserer Epoche überreichlich in Erscheinung treten“, darunter etwa als Angst vor Abhängigkeit, als berechnendes Verführungsgehabe und als große Angst vor Alter und Tod. Letztere gehe mit der irrigen Auffassung einher, dass Gesundheit von stetiger ärztlicher Kontrolle und der Früherkennung von Krankheiten abhänge: „Der Patient fühlt sich erst dann wieder gesund, wenn ihm seine Röntgenbilder einen klaren Gesundheitsbefund bestätigen.“

Hinzu kommt die Faszination für Berühmtheiten. Der Narzisst teilt die Menschen in zwei Gruppen ein: auf der einen Seite die Reichen und Berühmten, auf der anderen die Masse der Gewöhnlichen. „Narzisstische Patienten“, schrieb der österreichstämmige Psychiater Otto F. Kernberg in seinem Werk „Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus“, „sind ständig bemüht, selber auch zu den Großen, Reichen und Mächtigen zu gehören, und sie fürchten andauernd, es könnte sich herausstellen, dass auch sie nur mittelmäßig sind, was für sie nicht nur durchschnittlich im üblichen Sinn heißt, sondern praktisch gleichbedeutend ist mit einer wertlosen und verächtlichen Existenz.“

Ruhm ist abhängig von Fähigkeiten und Leistungen. Und er ist nachhaltig, Berühmtheit hingegen das Gegenteil davon. Denn dabei geht es darum, mediale Aufmerksamkeit zu erregen, in Talkshows und auf Twitter präsent zu sein. Christopher Lasch: „Das ist hochgradig vergänglich, man muss sich unaufhörlich sorgen, die Berühmtheit nicht wieder zu verlieren. Alle, sogar auch Beamte, die nicht vom Wählerwillen abhängen, müssen sich ständig im Blickfeld der Öffentlichkeit halten, die ganze Politik wird zu einer Art von Show.“ Die Welt der Massenmedien ähnelt so einem riesigen Spiegelsaal.

Mit „Medientraining“ und videogestützten Rhetorikkursen hochgerüstet und von Werbeagenturen wie Kosmetika zum Vermarkten verpackt, verströmen Politiker mit ihrem einstudierten „viele Worte, aber nichts Substanzielles sagen“-Gehabe nicht selten die Aura eines Narzissten. Und wer genauer hinsieht, erkennt unweigerlich, dass gerade die Strahlemänner überhaupt nicht besser als andere sind, sondern zumeist sogar viel schlechter. Dass ihnen nämlich eine wirkliche geistige Auseinandersetzung mit der Welt noch fehlt. Dass es ihnen nicht um das „dem Volk dienen“, sondern um das „am Volk verdienen“ geht. Also um Macht und Selbstbereicherung, um Ausbeutung in narzisstischer Manier. Gut, es war ja nicht etwa ihre breite humanistische Bildung, es war ja nicht ihre überdurchschnittliche Menschlichkeit, ihre unbeugsame Redlichkeit, nein! Seilschaften haben sie an die Macht gehievt, jahrelanges Hinaufdienen durch Gefälligkeiten und stromlinienförmiges Anpassen.

Einmal oben angelangt, macht ihre Selbstbezogenheit immer wieder staunen: Österreichs Regierungsspitzen etwa, als sie sich bei Tanz und Champagnergeselligkeit im Fernsehen präsentierten – ohne Masken und ohne Abstand, während man dem Volk einen absurd strengen Lockdown verordnet hatte! Immer strengere Formen staatlicher Einflussnahme kennzeichnen die sogenannte Demokratie von heute, die längst zur Herrschaft einer kleinen Elite über riesige Machtnetzwerke und Institutionen geworden ist. Die so mächtig sind, dass selbst der US-Präsident ohnmächtig zusehen muss, wenn Twitter seine „Telefonleitung“ sperrt. Dieser neuen Art von „Überwachungskapitalismus“ geht es darum, den „ganzen Menschen“ unter die Kontrolle zu bringen, also nicht etwa nur darum, die Arbeitsbedingungen zu regeln, sondern auch das Privatleben, die Kindererziehung, die Gesundheit und die Freizeit. Das politische Handeln wird zunehmend alternativlos – so alternativlos wie das Verhalten des Narzissten in der Beziehung mit seinem Partner! Damit verstrickt uns die Politik immer tiefer, kann aber die wirklichen Probleme nicht lösen. Hans-Joachim Maaz resümiert treffend: „Die Demokratie ist im Spinnennetz ihrer narzisstischen Akteure gefangen.“


Keine Verantwortung für desaströse Folgen

Ein weiterer, ganz typischer Charakterzug des Narzissten ist seine mangelnde Empathie. Es ist ihm mehr oder weniger unmöglich, sich in andere hineinzuversetzen, allerdings ist das nicht unbedingt einfach zu erkennen, denn wenn er aus einem anderen Menschen einen Nutzen ziehen will, entwickelt er nahezu hellseherische Fähigkeiten – fast so, als könne er die Gedanken seines Gegenübers irgendwie scannen.

Für den Narzissten ist sein Gegenüber eigentlich gar kein eigenständiges Wesen, sondern eine Art von Anhängsel seiner Person, das lediglich der Erreichung seiner ausbeuterischen Ziele dient. Dieser Charakterzug herrscht freilich auch in der Wirtschaft vor. Er reduziert beispielsweise Wälder zu Bauholz, etwas, das in Kubikmetern gemessen werden kann und dessen Wert allein der Marktpreis bestimmt. Er steckt hinter den Unternehmenskulturen transnationaler Konzerne, die mit Corporate Identities, Produktstrategien, Global Advertising und strahlenden Bildern geschaffen werden, aber Menschen, Tiere, Pflanzen und Landschaften ohne Skrupel zu reinen Ausbeutungsobjekten machen. Er steckt hinter der Jagd nach Rendite, die Arbeitsplätze streicht, die Produktion in Billiglohnländer auslagert und die Verantwortung verschleiert, wenn die desaströsen Folgen ans Tageslicht kommen.

Dieser Charakterzug steckt hinter jener verschleierten militärischen Kriminalität, die verharmlosend „Gain of function“- Forschung (Erweiterung der Funktion) genannt wird, deren Ziel es aber ist, Tierviren auf den Menschen übertragbar und tödlich zu machen, um sie im Krieg zur Massenvernichtung einsetzen zu können – ohne die Infrastruktur zu zerstören!

Dieser Charakterzug steckt hinter der Erlaubnis für Unternehmen, Infrastrukturkosten und ökologische Kosten auf den Steuerzahler abzuwälzen, ebenso wie hinter der Erlaubnis für Unternehmen, ihre Produkte unreparierbar und mit eingebauter Obsoleszenz (absichtlich verringerter Lebensdauer) zu verkaufen. Er steckt hinter der Erlaubnis für Konzerne, in Ländern, in denen sie Umsätze erzielen, keine Gewinnsteuern zu zahlen, ebenso wie in der paradoxen Forderung durch die Welthandelsorganisation („WTO“), dass unsere Arbeitnehmer mit jenen in Ländern ohne Umwelt- oder Sozialstandards konkurrieren müssen.

Dieser Charakterzug steckt ebenso hinter verschleierten Spekulationsprodukten wie den Credit Default Swaps („CDS“), einer quasi psychotischen Sonderform der Kreditversicherung. Diese Versicherung kann nämlich nicht zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer abgeschlossen werden, sondern mit jedem – also auch mit einem am Geschäft gar nicht Beteiligten. Das funktioniert in etwa so, als würde man eine Wette auf die Brandschadenversicherung des Hauses eines Nachbarn abschließen, und zwar gleichzeitig bei 25 Banken. Brennt das Haus des Nachbarn dann tatsächlich ab, erhält nicht der Nachbar, sondern der CDS-Besitzer die gesamte Versicherungssumme des Nachbarhauses, und das gleich 25-fach! Er könnte also ein beachtliches Interesse daran entwickeln, dass das Haus seines Nachbarn abbrennt – weil er dann zum Multimillionär wird! So etwa wie Mitt Romney, der einstige Gegenspieler von Barack Obama, oder Wilbur Ross, der Handelsminister der Trump-Regierung. Beide haben dieses „Geschäftsmodell“ betrieben, und längst nicht nur sie.

Der ausbeuterische Charakterzug steckt hinter der Gier einer verschleiert als einzige tatsächliche Weltmacht agierenden Finanzindustrie, die mit immer undurchschaubareren Konstruktionen in fast teuflischer Weise alle legalen Schlupflöcher aufzuspüren und auszunutzen weiß und gigantische Profite damit erzielt, mittelständische Unternehmen oder gleich ganze Währungen in den Abgrund zu treiben.


Der Kollaps

Die Frage stellt sich für die moderne Gesellschaft ebenso wie für den Einzelnen: Wie geht es weiter? Gibt es ein Entkommen aus der Narzissmus-Falle? Fest steht: Mit der bisherigen Strategie, nämlich mehr vom gleichen Falschen zu tun, gibt es auf beiden Ebenen kein Entkommen. Übrigens mutet auch der Plan des Multimilliardärs Elon Musk, nämlich bereits in wenigen Jahren damit zu beginnen, den Mars zu besiedeln, wie eine hochgradig pathologische Ausprägung dieser „Mehr vom Gleichen“-Strategie an: Anstatt unsere Lebenswelt zu reparieren und in eine würdevolle Neuordnung zu führen, baut Musk auf die Vorstellung, dass die Erde in Zukunft nicht mehr für Menschen bewohnbar sein wird. Der Mars ist 250 Millionen Kilometer entfernt und eine Sandödnis ohne Wasser, mit Nachttemperaturen um mi- nus 90 Grad und einer Atmosphäre ohne Sauerstoff. Rückkehr unmöglich. Tausende Amerikaner haben sich dennoch bereits dafür gemeldet, die Wurzeln ihres Menschseins, unseren „Garten“ Erde zu verlassen. Warum? Ist es ihre Sehnsucht nach Berühmtheit? Oder ihre Sehnsucht nach dem Untergang?

Erinnern wir uns an den Narziss aus der Antike: Er bringt sich um, nachdem ihm seine missliche Lage gewahr geworden ist. Heute weist keine andere Persönlichkeitsstörung ähnlich hohe Selbstmordraten auf wie die narzisstische: Nahezu jeder zehnte Patient tötet sich selbst. Da aber nur die wenigsten krankhaften Narzissten therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen, ist eine wesentlich höhere Dunkelziffer vorstellbar. Wenn auch der Selbstmord nur den Extremfall darstellen mag, ein Kollaps erscheint wohl kaum vermeidbar. Auf kollektiver Ebene wäre das der seit Jahren diskutierte System-Crash, auf der persönlichen Ebene des Narzissten beispielsweise ein schweres Burnout. Beide Ebenen haben sehr ähnliche Verlaufsmuster: In der Gesellschaft führen die wachsenden Konflikte und Krisen fast zwangsläufig zu immer realitätsferneren – sprich: Menschen, Natur und eine höhere Macht verachtenden – Scheinlösungen. Die Politik gerät in einen Teufelskreis, der zur Eskalation und in weiterer Folge zum Systemzusammenbruch führen kann.

Auch dem Narzissten schlägt irgendwann einmal die Stunde der Wahrheit – dann, wenn sein Umfeld eine realistische Sicht auf sein Verhalten einfordert. Zunächst wird auch er noch versuchen, mehr vom gleichen Falschen zu tun: Er muss noch mehr lügen, muss noch mehr kontrollieren und noch verbissener arbeiten, um sein ausbeuterisches Verhalten zu verschleiern. Früher oder später führt das jedoch unweigerlich zu seinem Zusammenbruch.

Die Tragik des Narzissten ist, dass er sein Heil und seine Heilung unablässig im Außen sucht, unwissend, dass dies nur von innen kommen kann. Diesen „außengeleiteten“ Menschen der amerikanischen Gesellschaft beschrieb David Riesman vor mehr als siebzig Jahren in seiner soziologischen Studie „Die einsame Masse“: mangelnde Empathie, Selbstbezogenheit, Rücksichtslosigkeit sowie Steuerung durch die Massenmedien charakterisieren ihn, und zwar in krassem Gegensatz zum „innengeleiteten“ Menschen der Vergangenheit.

Für ein lebenswertes Überleben wäre sowohl der Weltgesellschaft als auch dem Narzissten eine radikale Neuorientierung hilfreich. Das sagt sich einfach, wird aber auf beiden Ebenen nicht ohne eine Art von Kampf abgehen. Denn Probleme, daran erinnerte uns Albert Einstein, können nicht mit derselben Haltung gelöst werden, durch die sie entstanden sind. Hans-Joachim Maaz plädiert dafür, dass wir uns von der Gier verabschieden, und skizziert eine demokratische Revolution.

Dass wir von einer solchen aber noch ein Stück weit entfernt sein dürften, meint der in Neuseeland lebende Autor Hans-Jürgen Geese. In seinem Essay „Die Rückkehr zum menschlichen Maß“ schreibt er auf Anderwelt-Online: „Mein bescheidener Rat: Leben Sie in Frieden mit sich selbst und der Welt. Und in enger Zusammenarbeit in einer Gemeinschaft mit Gleichgesinnten. Das ist alles. Sie werden den Weltengang nicht aufhalten können. Es wird geschehen, was geschehen muss. Letztendlich wird wieder einmal in einer gigantischen Schlacht entschieden, ob das Böse oder ob das Gute gewinnen wird. Sie müssen nur Ihrer inneren Stimme lauschen und für sich bestimmen, unerschütterlich, auf welcher Seite Sie sich einreihen wollen in diesem Kampf. Und Ihren kleinen Beitrag leisten. Sterben werden Sie so oder so. Aber unsere Kinder müssen überleben.“


Zum Weiterlesen:


Hans-Joachim Maaz, „Die narzisstische Gesellschaft. Ein Psychogramm“, Dtv, 11,30 Euro.


Christopher Lasch, „Das Zeitalter des Narzissmus“, Dtv, 59,50 Euro.

Bärbel Wardetzki, „Weiblicher Narzissmus: Der Hunger nach Anerkennung“, Kösel, 20,56 Euro.



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